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Obergericht Zürich

Der Operettenskandal von 1877

Zensur und Verbot in Zürich

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten die französischen Operetten zu viel Aufruhr in Zürich. Als «unsittliche Stücke» und «französische Lüderlichkeiten» kritisiert, kam es zum Aufführungsverbot der Operetten Die «schöne Helena» und «Mamsell Angot».

Früher wie heute haben es die Kunstschafftenden nicht einfach, ihre Existenz durch die Musik zu sichern. Gesellschaftliche und politische Positionen können – neben ökonomischen Faktoren – Erfolge und Misserfolg von Musikunternehmen ausmachen. 1877 steigerten sich Auseinandersetzungen um beliebte Operetten in Zürich zu einem heftigen Konflikt.

Neben der bereits schwierigen Lage der Musikkultur in Zürich – z.B. mit dem Widerstand bei der Errichtung des Aktientheaters – stellten sich der Operette noch grössere Herausforderungen. Diese wurde lange als Missstand von öffentlichen Institutionen, Theatern und auch in Musikschulen selbst wahrgenommen, obwohl sie doch meist grossen Erfolg beim Publikum erzielte.

Trotz diesem finanziellen Durchbruch der Operette, fassbar auch an den erhöhten Gagen der Darsteller*innen, führte ihr schlechter Ruf in Zürich bis hin zur Zensur gewisser Stücke. Der Operettenskandal von 1877 in Zürich verdeutlicht diese schwierige Situation und die enge Verknüpfung der Musik mit der Politik. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der damalige Kanzlist der Stadtpolizei Zürich, Gerold Vogel.

Gerold Vogel – die kritische Feder der NZZ

Als Musiker selbst gescheitert, schlug Vogel nach langem Zögern zum Wohlwollen seines Vaters eine Laufbahn im Amt ein. Seine Liebe zum Musiktheater übte er neben seinem Beruf aus, so auch als Theaterkritiker für die Neue Zürcher Zeitung. Mehr als einmal verdeutlicht Vogel seine Abneigung gegenüber den Operetten, insbesondere den französischen. Seine Haltung gegenüber der «Operettenwirthschaft» verdeutlichen folgende Kritiken der NZZ im April 1877: «Die beiden Aufführungen der Operette ‹Giroflé und Girofla› haben sich eines zahlreichen Besuches und eines sehr günstigen Erfolges zu erfreuen gehabt. Man mag über den Werth dieser Stücke noch so gering denken – die Aufführung an sich verdiente alles Lob.» Weiter lobte er den Darsteller des Paris in Offenbachs «Schöner Helena», «einen besseren Operettensänger hat man hier lange nicht mehr gehört; zum Heile der Kunst wollen wir hoffen, Herr Schütz trete auch in wirklichen Opern auf», kritisierte aber die Operette und die Direktion des Opernhauses: «Nichts aber ist mehr trostlos, als die edle Gier, mit welcher ein Theater nach dem andere sich beeilte, diesen elenden Abfall der französischen Bühne nachzuäffen […].» .

Die erfolgreiche Aufführung von Charles Lecocqs «Mamsell Angot» führte dazu, dass der Zünfter und Patriot Vogel sich politisch aktiv für ein Verbot dieser Operetten engagierte.

Der Operettenskandal

Am 06. Mai 1877 kam es nach der erneut sehr gut besuchten Aufführung Mamsell Angot zu «unsittlichem » Verhalten auf den Strassen. Vogel protestierte, dass die französischen Operetten zur «Verwilderung der Jugend» führen würden. Im Regierungsratsbeschluss vom 26. Oktober 1878 wurde seine Anklage festgehalten.

Theaterkritik von Gerold Vogel vom 13.05.1877 in der Neuen Zürcher Zeitung Theaterkritik von Gerold Vogel vom 13.05.1877 in der Neuen Zürcher Zeitung

In der Generalversammlung von 1877 wurde das Verbot schliesslich durchgesetzt und der damalige Präsident des Aktientheaters musste zurücktreten. Die «schöne Helena» und «Mamsell Angot» durften danach nicht mehr aufgeführt werden.

In einem öffentlichen Schreiben stellten Vogel und Erziehungsdirektor Sieber die Operetten als eine «Verwirrung der Kunst» dar und auch wenn das Interesse des Volkes erkannt wird, so trägt doch die Direktion die Hauptverantwortung und spricht daher in erster Linie mit, wenn «anstössige» Werke aufgeführt werden. Das Schreiben fordert, dass Stücke stets auf Inhalt und Inszenierung geprüft werden müssen, bevor sie vor dem Zürcher Publikum gespielt werden dürfen.

Der Beschluss hatte zur Folge, dass Vogel und fünf weitere Personen 1878 zu Vertretern des Regierungsrates bei der Theateraktionärversammlung ernannt wurden. Erst nach Vogels Tod und dem Neujahrsbrand im Aktientheater 1890 wurden Anfang des 20. Jahrhunderts die beiden Operetten wieder aufgeführt.