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Caspar-Escher-Haus (ehemalige Patentstelle)

Musikerpatente

Wenn die Polizei mit Erfolg diktiert, was Kunst ist

Der Direktor des Zürcher Konservatoriums verliert im Jahre 1933 die Lust an Konzertbesuchen in Hotels und Restaurants, weil die Zürcher Polizeidirektion ihn als Musikexperten zum Besuch verpflichtet. Ein absurd scheinendes Amt, welches nicht nur die Portemonnaies der Musiker, sondern auch deren Stolz strapazierte.

Der Autor des hier gezeigten Briefes, Carl Vogler, von 1919 bis 1945 Direktor am Konservatorium Zürich, wurde von der Stadt engagiert, um Konzerte auf deren Kunstwert zu überprüfen. Aufgrund des kantonalen Gesetzes betreffend das Markt- und Hausirwesen mussten ausserkantonale, wandernde Anbieter von Waren und Dienstleistungen vor ihrer Tätigkeit im Kanton eine Gewerbebewilligung für eine Gebühr von 1-300 Fr. bei der Polizei beantragen. Ein solches «Hausierpatent» benötigten seit dem 19. Jahrhundert auch darstellende Künstler: Jede Darbietung in Zürich galt rechtlich als Hausierverkehr und war patentpflichtig. Für jedes bespielte Lokal musste ein eigenes Patent gelöst werden. Ausgenommen waren nur etablierte Kunstinstitutionen. Das «höhere Kunstinteresse» war dabei ab 1894 die zentrale Unterscheidungsklausel, die abhängig von Repertoire, Spieldauer und Ausbildung die Musiker von der Patentpflicht befreien konnte und individuell geprüft werden musste. Eine Gebühr vom subjektiven Kunstwert einer Darbietung abhängig zu machen, wirft natürlich Schwierigkeiten auf. Gerade wenn erst 1933, fast 40 Jahre nach der Gesetzesaktualisierung, mit Carl Vogler der erste amtliche Musikexperte bestellt wurde, war in den Jahren zuvor der Konflikt vorprogrammiert. Ein koordinierter Befreiungsschlag von Künstlern und Veranstaltern im Juli 1932 sollte die Lücken der Regelung zugunsten der Musiktreibenden ausnützen.

Juristische Spitzfindigkeiten bringen die Behörden in Verlegenheit

Eine Vereinigung von 11 Zürcher Grossrestaurateuren – darunter waren etwa der Kursaal im 1969 abgerissenen Palais Henneberg, das Grand Café Metropol an der Fraumünsterstrasse oder die Mascotte Bar an der Theaterstrasse – weigerte sich, die Patente für ihre Musiker zu beantragen, denn tatsächlich machte die Polizeidirektion jahrelang Konzertveranstalter für die Beschaffung verantwortlich, obwohl es keine gesetzliche Grundlage dafür gab. Den Fehler eingestehend, forderte die Polizeidirektion die Patente direkt bei den betroffenen Musikern ein, aber scheiterte ebenso: Die fest engagierten Musiker weigerten sich, «Hausierpatente» zu lösen – sie zogen schliesslich nicht durch die Stadt wie Hausierer. Nach vermehrten Zahlungsaufforderungen der Behörden liessen Veranstalter und Musiker private Gutachten erstellen – als Experten wurden Musikwissenschaftlerin Nelly Diem, Konservatoriumsdirektor Carl Vogler und Tonhalle-Konzertmeister Karl Zimmerli engagiert. Ihre Gutachten schrieben den Darbietungen in den Grossrestaurants höheres Kunstinteresse zu. Ohne amtliche Definition höherer Kunst und ohne verantwortliche Prüfautorität, die den Gutachten hätte widersprechen können, musste sich die Polizeidirektion geschlagen geben.

Nicht die Musik, sondern die dazugehörige Stille macht die Kunst?

Am 3. Januar 1933 revanchierte sich die Polizeidirektion mit der Einberufung einer Musikerkonferenz, um einen Experten für amtliche Musikgutachten zu benennen und die Kriterien für «höheres Kunstinteresse» zu definieren. Experte wurde Carl Vogler, welcher prompt die Seite wechselte. Ob aufgrund konservativer Einstellung Voglers oder Vorgaben der Polizeidirektion ist unklar – die Kriterien waren jedenfalls eine Enttäuschung: Lokale mit Bar und Tanzbetrieb wurden per se ausgeschlossen. Musik zum Selbstzweck und ohne Geräuschkulisse wurde gefordert. Klirrende Gläser, Konversationen und Tanzeinlagen verminderten den Kunstwert, hiess es. Instrumentales Können, Stilrichtung oder Repertoire der Darbietung blieben dabei irrelevant. Voglers Rolle auf beiden Seiten des Konfliktes mehrte sofort Rücktrittsforderungen und Korruptionsvorwürfe. Denn dieses vage Kriterium machte viele einst patentfreie Ensembles gebührenpflichtig, traf Künstler in ihrem Stolz, und all dies, während die Tonhalle patentfrei Unterhaltungskonzerte veranstaltete2.

Die Frage der Geräuschkulisse brachte Varietés, Kaffeehäuser und Tanzlokale dazu, rechtlich gegen die Behörden vorzugehen: Im Sommer 1933 klagten sie die Stadt Zürich der Behördenwillkür an, doch das Bundesgericht lehnte am 8. Dezember 1933 die Klage ab und bestätigte die Kriterien der Polizeidirektion. Ein Präzedenzfall war geschaffen: Unterhaltungsmusik besass juristisch bestätigt kein «höheres Kunstinteresse», die Patentpflicht für alle ausser Tonhalle und Stadttheater wurde in Stein gemeisselt.

Trotz bürokratischem und juristischem Aufwand blieb das Hausiergesetz in dieser Form, inklusive des Begriffes «höheres Kunstinteresse», bis am 18. Februar 1979 in Kraft. Wie lange ein amtlicher Experte dafür benötigt wurde und ob sich die Kriterien jemals änderten, liegt noch hinter Archiv-Schutzfristen verborgen.