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Villa Reiff an der Mythenstrasse 24

Mäzenin Lily Reiff-Sertorius

Produktive Geldentwertung

Die Pianistin und Komponistin Lily Reiff-Sertorius setzte als Mäzenin im Zürcher Kulturleben jahrzehntelang wichtige Akzente. Gleich um die Ecke zur Tonhalle war die gastfreundliche Villa Reiff Treffpunkt und Talentschmiede, Knotenpunkt eines altruistisch gewobenen Netzwerks, das über die Stadtgrenzen hinausreichte.

In Zürich waren es die Gesellschaften , die den Ton angaben. Die städtische Musikkultur ging nicht aus einem mäzenatischen Verhältnis mit Hof, Adel oder Kirche hervor, sondern wurde von kollektivem bürgerlichem Engagement getragen. Dennoch leisteten Einzelpersonen, die als Privatmäzene oft in aller Stille und persönlicher Verbindung zu den Kunstschaffenden wirkten, wichtige Beiträge zur Kulturförderung in der liberalen Limmatstadt. Kunstmäzenen-Paar Otto und Mathilde Wesendonck mögen, vielleicht zu Unrecht nur, als Muse respektive Mäzen Richard Wagners Teil des kollektiven Gedächtnisses sein. Rund eine Generation später jedoch zog eine in den Geschichtsbüchern kaum präsente deutsche Musikerin nach Zürich. Mehr als sechs Jahrzehnte lang war Lily Reiff-Sertorius bescheidener Mittelpunkt des Musiklebens.

Im «Genie-Hospitz»

Zusammen mit ihrem Mann, dem Seidenindustriellen und Musikbegeisterten Hermann Reiff, öffnete Lily Reiff-Sertorius ihr Haus an der Mythenstrasse 24 jeweils mittwochs an ihrem «jour fixe» zahlreichen Kunstschaffenden, die sie – wie ihren langjährigen Vertrauten aus Studienjahren, Richard Strauss – häufig auch beherbergte. Gern gesehene Gäste waren Adolf Busch, Bruno Walter, Stefi Geyer, Volkmar Andreae und viele weitere Berühmtheiten aus Literatur und Musik. Thomas Mann verewigte Lily Reiff nicht nur in seinem «Doktor Faustus», auch fürs Reiff’sche Haus fand er im Gästebuch den treffenden Namen: Im «Genie-Hospiz» sei er gewesen.

«Freundin der Alten – Helferin der Jungen»

Wenn ein Portrait in der Zürcher Woche 1951 Lily Reiff als «Freundin der Alten» und «Helferin der Jungen» rühmte, so umschreibt das auch die Eigenart der musikalischen «jours». Die wöchentlichen Teenachmittage waren für so manches Jungtalent das Karrieresprungbrett, so auch für die Sängerin Maria Stader, die Lily Reiff ein Leben lang freundschaftlich verbunden blieb. Mäzenin und Musikerin fallen bei Lily Reiff in einer Person zusammen, davon zeugt nicht nur die (finanzielle) Förderung aufstrebender Musikerinnen und Musiker. Auch das Musizieren mit ihrem Mann, der leidenschaftlich Cello spielte, und ihren Gästen hatte Tradition. Kaum verwunderlich, riefen die Reiffs eine eigene Konzertreihe im städtischen Altersheim Lilienberg in Affoltern am Albis ins Leben und zogen dafür bei Gelegenheit auch die eine oder andere Berühmtheit aus dem Bekanntenkreis bei.

«Spenden zur Busoni-Stiftung»: Rückseite eines Briefs von Lily Reiff-Sertorius an Volkmar Andreae am 11. Mai 1926 «Spenden zur Busoni-Stiftung»: Rückseite eines Briefs von Lily Reiff-Sertorius an Volkmar Andreae am 11. Mai 1926 Zentralbibliothek Zürich, Musikabteilung, Signatur: Mus NL 76: L 1333: Nachweis (Zentralbibliothek Zürich)

«Privat»-Mäzenin?

Privates und öffentliches Engagement können sich zuweilen bewusst überschneiden. So flossen beispielsweise in den Zwanzigerjahren Erträge von Benefizkonzerten im Rahmen der Reiff’schen Teenachmittage in den Fonds für die Busoni-Stiftung der Tonhalle-Gesellschaft  zur Förderung der Witwe (und später junger Berufsmusiker*innen), deren Stiftungsrat Hermann Reiff als langjähriger Präsident der Gesellschaft angehörte. In den 1920ern spielten Lily und Hermann Reiff zugleich auch eine bedeutende Rolle dabei, Alexander Schaichets «Pionierprojekt», das erste Schweizer Kammerorchester, aus der Taufe zu heben und es Zeit seines Bestehens mäzenatisch zu unterstützen. Diese Geste beruhte auf Gegenseitigkeit. Als Förderer der Neuen Musik brachte Schaichet Lily Reiffs «Drei Reigen» für Streichorchester und Harfe am 13. Oktober 1924 im Kleinen Saal der Tonhalle zur Uraufführung. Zusammen mit seiner Frau, der Pianistin Irma Schaichet, und Mitgliedern des Kammerorchester Zürichs wirkte er zudem am Festkonzert anlässlich Lily Reiffs 75. Geburtstag mit. Ein Jubiläum, das nicht nur die Mäzenin, sondern auch die Musikerin, die Komponistin, feierte.

«Moral des Schenkens»

Auch nach dem Tod ihres Ehemannes 1938 dauerte die Tradition des «Genie-Hospizes» an. Bereits 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und während den schweren Kriegsjahren war die Villa Reiff für viele eine erste Anlaufstelle, das uneigennützige Engagement der Gastgeberin bot finanzielle Unterstützung. Lily Reiff-Sertorius’ «Moral des Schenkens» mag aus finanzieller Sicht kaum profitabel erscheinen. Jedoch von einem Verlustgeschäft zu sprechen, würde wohl den wahren Wert des «Genie-Hospizes» verkennen. Denn, in den Worten der Pädagogin Eugenie Schwarzwald ausgedrückt: «Vor allem lernt man [dort], dass wahre Gastfreundschaft die lustigste und produktivste Art von Geldentwertung ist.»