Navigation auf uzh.ch
Als Paul Hindemith nach Zürich berufen wurde, bestand das Musikwissenschaftliche Seminar erst seit kurzer Zeit: Es wurde 1929 von Antoine-Elisée Cherbuliez errichtet, also gut hundert Jahre nach der Universitätsgründung im Jahr 1833. Die gebildeten Zürcher Kreise waren gegenüber der Musik insgesamt zurückhaltend, deshalb verpflichtete man zunächst nur zwei Privatdozenten, Fritz Gysi und Antoine-Elisée Cherbuliez. 1948 trieben vor allem Heinrich Straumann, Professor für Anglistik und Dekan der Philosophischen Fakultät, sowie Emil Staiger, Professor für Germanistik, mit Erfolg die Einrichtung eines Lehrstuhls voran. Für das neue Ordinariat war nach relativ kurzen Besprechungen Paul Hindemith vorgesehen. Die Ernennung eines Komponisten auf einen akademischen Lehrstuhl ist eher ungewöhnlich. In den Vierzigerjahren fand jedoch ein Umdenken bezüglich des Faches statt: Nach Staigers Auffassung sollte die Musikwissenschaft mit der aktuellen Kompositionssituation zusammengeführt werden. Man distanzierte sich vom Historismus und suchte die Verbindung von Kunst und Leben mit der Wissenschaft, damit die Musik als kunstwissenschaftliches Fach im akademischen Kanon mehr Bedeutung erhielte. Hindemith als ausübender Künstler erschien für diese Aufgabe prädestiniert und brachte auch den musiktheoretischen Hintergrund mit.
Ausschlaggebend für Hindemiths Wahl waren seine musiktheoretischen Schriften. Obwohl es sich um keine im engeren Sinne musikwissenschaftlichen Studien handelte, wurden sie von der Universität als Qualifikationsarbeiten angenommen. Um allfälligen Bedenken wegen seiner fehlenden akademischen Ausbildung entgegenzuwirken, schlug Hindemith vor, die musikgeschichtliche Lehre anderweitig abzudecken, um sich selbst auf seine Spezialgebiete konzentrieren zu können. Ein problematischerer Punkt waren seine Tätigkeiten als Komponist und Dirigent. Einerseits wünschte man sich die direkte Verbindung zum Konzertleben, andererseits musste man aber berücksichtigen, dass Hindemith dem Institut nicht vollumfänglich zur Verfügung stehen würde.
Für Hindemith selbst gab es wichtige Faktoren, sich für Zürich und gegen vielversprechende Angebote anderer Hochschulen zu entscheiden. Beispielsweise bildete die Schweiz einen idealen, neutralen Ausgangspunkt zum Aufbau seiner Konzertpläne in Europa. Nach Deutschland wollte er als von den Nationalsozialisten verfemter Emigrant nicht zurückkehren.
Am 13. Juli 1950 wurde Hindemith zum ordentlichen Professor gewählt. Seine Antrittsvorlesung mit dem programmatischen Titel "Musikalische Inspiration" fand am 24. November 1951 statt. Wie gewünscht durfte er seinen Lehrplan selbst definieren (Musiktheorie, Komposition und Pädagogik) und den musikhistorischen Bereich an Antoine-Elisée Cherbuliez abgeben. Durch diesen zusätzlichen Lehrauftrag konnten die bisherigen Privatdozenten am Institut bleiben – ein Aspekt, der Hindemiths Berufung sicherlich begünstigte. Die Universität Yale, an der Hindemith als Dozent wirkte, stellte ihn jedes zweite Jahr von seinen Lehrverpflichtungen für den Unterricht in Zürich frei. Seine künstlerischen Aktivitäten durfte er weiterhin ausüben, und er war auch nicht verpflichtet, in Zürich zu wohnen. Hindemith liess sich vorerst in Glattfelden nieder, zog 1952 dann aber für die vorlesungsfreie Zeit nach Blonay (GE). Während des Semesters wohnte er in Zürich und Zollikon.
Hindemiths Unterricht war sehr praktisch ausgerichtet. Es war ihm wichtig, dass jeder Musikwissenschaftler mit dem Handwerk der musikalischen Komposition vertraut ist. Voraussetzung für die Teilnahme an seinen fortgeschrittenen Kompositionslehrekursen der war eine Prüfung, die nur wenige Studenten bestanden. Im Zentrum standen dabei Aufgaben zum Tonsatz, bei denen weniger Wissen als Können und Neigung geprüft wurden. Viele Studenten studierten Hindemiths theoretische Schrift "Die Unterweisung im Tonsatz" (1937–1940), um sich auf die Seminare vorzubereiten. Jedoch wollte Hindemith nicht, dass man die Regeln des Tonsatzes stur befolgte – wenn man es trotzdem tat, wurde er zornig. Er mochte es, Leute um sich zu haben, mit denen er über Musik diskutieren konnte, die ihn zu weiteren Gedanken anregten und die ihm widersprachen. Als Lehrer war er ausserordentlich streng und verlangte seinen Studenten grosse Disziplin ab. Laut ihren Berichten war er sehr launisch, manchmal sogar aggressiv, besonders dann, wenn er mit den Leistungen nicht zufrieden war. So nahm die Teilnehmerzahl an seinen Seminaren im Verlaufe des Semesters stets ab.
Seine neue Aufgabe begann Hindemith mit grossem Enthusiasmus und Plänen zur bevorstehenden Aufbauarbeit. Die Mehrfachbelastung als ausübender Künstler und Dozent wurde mit der Zeit jedoch zu gross, so dass er den eigenen Ansprüchen als Lehrer nicht mehr gerecht werden konnte. Auch wurden wiederholt Klagen laut, dass im Unterricht zu viel Gewicht auf die Komposition gelegt würde. Zur Entlastung kündigte Hindemith 1953 seinen Lehrauftrag in Yale. Dennoch fand er nicht mehr genügend Zeit für die vielfältigen Verpflichtungen und entschied sich im Frühjahr 1956 zugunsten seiner künstlerischen Laufbahn. Man ernannte ihn zum Honorarprofessoren, damit er weiterhin jeweils einige Wochen in Zürich unterrichten konnte. Für zwei Semester kam Hindemith diesem Wunsch nach, konzentrierte sich danach aber ganz auf seine Tätigkeiten als Komponist und Dirigent. Seine beiden letzten Kurse in Zürich waren den Madrigalen Gesualdos und Schönbergs Streichquartetten gewidmet. Hindemith brach seine Kontakte zu Zürich nicht ab, sondern liess immer wieder mit Postkarten, die sein zeichnerisches Geschick und seinen Humor demonstrieren, von sich hören. Seine Frau Gertrud schrieb nach Hindemiths Tod im Jahre 1963: "Die Jahre, die mein Mann an der Züricher Universität lehren durfte, hatte er in schönster Erinnerung, und seine Verbundenheit zu dieser Hochschule war echt und lebendig geblieben."
"Es ist mir noch in guter Erinnerung, wie wir uns alle beizeiten eingefunden hatten und mit spürbarer Spannung auf den berühmten Lehrer warteten. Pünktlich erschien eine untersetzte Gestalt im Hof. Ohne Aufhebens, ohne magistrale Pose schaute er keck in die Runde und tat überhaupt nicht verwundert, als er unter der Schar einen Schwarzen erblickte. Hindemith begann sogleich, die Studenten, die ihm am nächsten standen, ungezwungen anzusprechen, wie wenn man sich erst kürzlich getroffen hätte, wollte wissen, was wir bis jetzt studiert und gearbeitet hatten, welche Vorstellungen und Erwartungen wir hätten und ob wir Kompositionen vorweisen könnten. Begreiflicherweise scheuten wir uns, mit eigenen Werken herauszurücken."
Pater Daniel Meier: Humorvoller Lehrer mit streitbarer Ader. In: Schweizer Musikrat SMR (Hgg.) Ansichten eines Weitsichtigen. Paul Hindemith und die Schweizer Ausstellung im Stadthaus, Zürich, 1996. S. 51.
"In seinen Vorlesungen behandelte Paul Hindemith eine Geschichte der Musiktheorie, die von den Ursprüngen bis in die Gegenwart reichte und in einer Art und Weise stattfand, wie man sie in keinem Buch lesen kann. Es war erstaunlich, mit welcher Genauigkeit er Harmonie und Melodie analysierte und Auskunft geben konnte über alle wichtigen theoretischen Werke von den Griechen über das Mittelalter bis zum 19. und 20. Jahrhundert. Er erweckte dabei nie im Geringsten den Eindruck, er habe sich damit etwas aufgeladen, das ihn belaste, dem er sich wie einem Schicksal unterziehen müsse. Jede Vorlesung war für ihn eine ernst zu nehmende Verpflichtung, die er aus seiner berufsethischen Haltung heraus mit einer selbstverständlichen Bereitschaft sondergleichen erfüllte. Dabei liess er oft den Humor spielen."
Pater Daniel Meier: Humorvoller Lehrer mit streitbarer Ader. In: Schweizer Musikrat SMR (Hgg.). Ansichten eines Weitsichtigen. Paul Hindemith und die Schweizer Ausstellung im Stadthaus, Zürich, 1996, S. 55.
"Früh wurde uns allen, die mit ihm in dieser Eigenschaft [des Lehrens] zu tun hatten, deutlich, wie sehr ihm daran gelegen war, das Erzieherische und menschlich Verbindende, das er ja jeder praktischen Musikausübung grundsätzlich zuschrieb, auch persönlich zur Geltung kommen zu lassen. Dass dies etwa in seinen Übungen zur mittelalterlichen Vokalmusik zum Ausdruck kommen würde, war zu erwarten, auch wenn es nicht allen Teilnehmern ohne weiteres gelegen kam, die behandelten Stücke auch sofort ab Blatt zu singen. Darüber hinaus war er nicht nur bereit, sondern ergriff sogar die Initiative dazu, auch ausserhalb des Lehrprogramms im kleinen Kreis solche Singübungen durchzuführen."
Heinrich Straumann: Kleine Erinnerungen an Hindemiths Zürcher Zeit. In: Hindemith-Jahrbuch, Frankfurt am Main, 1971, S. 154.
"In meiner schriftlichen Prüfung am 7. Juli 1952 hatte ich das Scherzo von Bruckners Zweiter Symphonie für zwei Klaviere zu bearbeiten. Es kam darauf an, Verständnis für alle Aspekte des Orchestersatzes und für die Gegebenheiten der beiden Klaviere zu zeigen. […] Sie begann für mich wie ein Fegefeuer. Obwohl Hindemith wusste, dass ich von Haus aus Geiger und Bratscher war und nur behelfsmässig Klavier spielte, musste ich Mahlers ‚Kindertotenlieder‘ ab Blatt spielen und zugleich harmonisch analysieren. Es musste für einen Betrachter wie eine halbe Stunde im Irrenhaus geklungen haben. Hindemith sang den Vokalpart in den verschiedensten Lagen und unterbrach sich immer wieder, um mich anzufeuern. Während ich spielte und er mit Fistelstimme sang, war es mir nicht möglich zu analysieren. Er fauchte mich an, ich solle endlich den harmonischen Zusammenhang erklären, rief gelegentlich: ‚Schneller!‘, applaudierte meiner bruchstückhaften Analyse, begann dann aber voller Ungeduld auch wieder zu singen, während ich versuchte, ihn auf dem Klavier einzuholen. Mit einer ‚Affengeschwindigkeit‘, wenn ich so sagen darf, griff er mir bei falschen Tönen in die Finger, oder er jaulte die richtigen. Einigermassen erschöpft, stellte ich mich dann etwa eine Stunde lang seinen Fragen über die Entwicklung der Musiktheorie seit Boethius. Aber nach dem Mahler-Exerzitium hatte Hindemith seine Schärfe abgelegt; er strahlte Zutrauen und Güte aus, streute ironisch-humorvolle Bemerkungen ein und entliess mich in guter Stimmung."
Andres Briner: Erinnerungen an Paul Hindemith, Typoskript 1988 (UAZ AB.1.0427), o.S.
Wintersemester 1951/51:
Vorlesungen: Grundfragen der Theorie und Komposition (1. Teil), Musiktheorie für Fortgeschrittene (1. Teil), Technik der Komposition (1. Teil); Musikalische Inspiration (Antrittsvorlesung, 24. 11. 1951)
Seminare: Übungen zu "Musiktheorie für Fortgeschrittene", Übungen zu "Technik der Komposition"
Sommersemester 1952:
Vorlesungen: Grundfragen der Theorie und Komposition (2. Teil), Musiktheorie für Fortgeschrittene (2. Teil), Technik der Komposition (2. Teil)
Seminare: Übungen zu "Musiktheorie für Fortgeschrittene", Übungen zu "Technik der Komposition"
Wintersemester 1953/54:
Vorlesungen: Theorien und Theoretiker, Bau und Füllung musikalischer Formen (für Fortgeschrittene), Neueres und Neuestes in der Musiktheorie
Seminare: Übungen im Tonsatz, Übungen zu "Bau und Füllung musikalischer Formen"
Sommersemester 1955:
Vorlesungen: Studium und Ausführung alter Chormusik, Kanon und Fuge, Neuzeitliche Stile und Techniken
Seminare: Form- und Satzübungen, Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts
Wintersemester 1955/56:
Vortrag vom 15. 12. 1955: Hören und Verstehen unbekannter Musik
Wintersemester 1957/58:
Vorlesungen: Carlo Gesualdo (1560–1613), Schönbergs Streichquartette
Seminar: Grundzüge der Satztechnik
Erwin R. Jacobi: Die Entwicklung der Musiktheorie in England nach der Zeit von Jean-Philippe Rameau. Strasbourg 1957.
Alfred Ulrich Rubeli: Giuseppe Tartini: Musiktraktat gemäss der richtigen Wissenschaft der Harmonie. Winterthur 1958.
Autorinnen: Jasmin Blättler und Christa Waldburger